Heute hat der Chronist Bergfest. Er hat seine fünfte Tour abgekurbelt. In Iowa, das auch irgendwo in Europa liegen könnte, nur das Europa dafür nicht groß genug ist. In Amerika ist alles größer, auch die Naturräume gleichen Charakters. Jetzt sitzt er ausnahmsweise bereits gleich im Bus und schaukelt dem nächsten Startort entgegen: Lexington in Nebraska. Diese Buslinie von Chicago nach Denver wird nur einmal am Tag bedient und es hatte der Chronist keine Lust in der Hauptstadt des Staates, in Des Moins, zu übernachten, um erst am nächsten Tag abends nach sechs Uhr den Bus besteigen zu können. Also bewegt er sich in Radklamotten ungeduscht heute schon weiter und wird sich nach Mitternacht noch ein Hotel suchen müssen. Drückt ihm die Daumen.
Der Fahrer ist der gleiche, der ihn sehr wohlwollend gestern von der Umsteige Burlington nach Oskaloosa gebracht hat. Wie alte Bekannte schüttelt man sich die Hände.
Don zum zweiten, er ist Pensionär und leistet sich mehrere Kaltblutpferde, die von Amish ausgebildet werden; seine Frage vergaß der Chronist anzubringen
Dass Oskaloosa eine Haltestelle hat, die Ihren Namen verdient, kann man nicht verlangen. Aber dass die ziemlich moderne und reiche Stadt Des Moins sechs Kilometer aus der Stadt heraus irgendwo neben einem Gabelstaplerhändler so einen kleinen Raum anbietet, ist eine freche Missachtung der Würde seiner Nutzer.
Aber der Reihe nach. Irgendwann gestern nachmittag stieg der Chronist in einem verschlafenen Nest aus dem Bus. Die Nachmittagssonne ließ die Luft flirren, Fahrer Don wünschte ihm Glück und rauschte von dannen. Niemand war auf der Straße. Sergio Leone hätte sofort eine Melodie dazu im Kopf gehabt.
Haltepunkt Oskaloosa
In Ermangelung eines Saloons stiefelte der Chronist erst mal in den örtlichen Drugstore und kaufte sich einen Nagelklipser, den er dringend brauchte. Die Hotels lagen vor dem Ort am Highway. Direkt vor dem teureren der beiden handelte er sich hinten einen Platten ein, dessen Unglückswirkung durch ein schönes Zimmer mit Seniorenrabatt kompensiert wurde.
Es war der Chronist gestern nicht gut drauf, stellte sein Vorhaben und dessen allgemeinen Nutzen in Frage und empfand die Reststrecke als Bürde. Und er war auch ein bisschen einsam. Das passiert! Und dem Chronisten besonders nach Alkoholkonsum. Nach der Reifenrepartur, einer Dusche und dem Besuch des Walmart gegenüber sah die Welt schon anders aus. Am Eingang fing ihn Deborah ab. Sie hatte dort die Kunden zu begrüßen und den Chronisten mit dem Rennrad kommen sehen. Nach kurzem Informationsaustausch wurde er für berühmt erklärt und ein Kollege musste fotografieren.
Deborah war ausnahmsweise außerordentlich schlank. Früher hat sie als Krankenschwester gearbeitet, jetzt ist sie siebzig und macht das hier als Rentenjob. Sie hat zwei Kinder und wie der Chronist sieben Enkelkinder. Da war man schnell auf einer Wellenlänge. Sie ist Ureinwohnerin, leider hat er die Stammesbezeichnung luschig überhört. Jesus bekommt 100 %, Mr. Biden ist ihr zu alt und Mr. Trump traut sie nicht.
Der Chronist muss wiederholt feststellen, dass fleischlose Nahrung schwer zu finden ist. Alles hat Chicken oder Bacon. Schließlich kann er sich mit veganem Salat, Käse, einer Schüssel Fruchtsalat und einem Heißgetränk aus der Zimmerbar unter die weißen Laken zurückziehen und kommt so körperlich und mental wieder zu Kräften. Morgens ist es dann ja auch schön, den vom Todtenhausener Backoffice aufbereiteten Blog noch mal zu überfliegen. Läuft! Und so war er dann heute morgen wieder auf der Höhe, auch deswegen, weil das Hotel einen Pool hatte.
Im Frühstückssaal fragte er Larry, ob dieser nicht an seinen Tisch wolle. Etwas unsicher, was seine Frau davon hielte, ließ er sich nieder und Chris schließlich auch. Und dann wurde es besonders. Larry nahm seine Frau bei der Hand und betete, betete für das Essen und für Detlef, ihren Sitznachbarn. Beide waren wegen einer Familienfeier hier. Und wieder war der Chronist an Kundschaft geraten, die die Verbindung zu Jesus in dieser Frage für absurd, fast unmoralisch hielten. „Kennst du Jesus,“ fragte Larry und brachte ihn etwas in Verlegenheit. „Jesus hat mit seinem Leiden alle unsere Sünden auf sich genommen!“
Und Chris stellte unmissverständlich fest, dass nur Jesus es richten könne. Für den irdischen Teil notwendiger Herrschaft werden sie Mr. Trump wählen. Am Ende verabschiedete man sich herzlich. Sie mussten zum Gottesdienst, Larry: “Jesus hat zwar keinen Fahrplan, aber die Kirche schon.“ Sie werden für den Chronisten beten, wünschten ihm alles Gute und er war dankbar dafür.
Cris und Larry mit dem Chronisten im Fairfield Inn in Oskaloosa, Iowa
Lieber Larry, der Chronist kann sich eine Anmerkung nicht verkneifen, die ihm heute auf dem Highway in den Kopf kam. Entschuldige seine große Klappe. Ja, es ist wohl so gemeint, das Jesus die Sünden von uns nimmt. Das ist ja an sich schon eine hundsgemein schwere Aufgabe. Ist es da nicht rücksichtsvoll ihm gegenüber, lässliche Sünden zu unterlassen, um die Bürde nicht übergroß werden zu lassen? Und ist der Genuss von übermäßigem und ungesundem Essen nicht auch eine Sünde, wenn auch eine kleine? Ich könnte mir vorstellen, dass er stolz darauf wäre, wenn seine Anhängerschaft selbstbewusst und verantwortungsvoll mit ihrem Gestell umgeht und damit anderen weder eine Last wird, noch übermäßig verformt durchs Leben watschelt, auch im Alter. Sorry.
Der geflickte Reifen hat seine Form behalten, der angekündigte Regen wurde rücksichtsvoll vorverlegt. Heute ist Memorialday und der großzügige Highway nur dünn besiedelt.
Der Chronist kurbelt, bis zehn zählend, jeweils an zwei Polizeiautos vorbei, die auf dem Mittelstreifen stehen. Keine jaulende Sirene, kein Blaulicht. Die Beamten bleiben in ihren dicken Dodges sitzen, verfolgen auf dem Tablet den Sonntagsgottesdienst oder vielleicht Sexfilme. Jedenfalls scheinen sie den Chronisten nicht für jagbares Wild zu halten.
Legal! Rennrad auf dem Highway; Für Dave Jackson, dem Eigentümer eines 1960 Cadillac Sedan deVille in der Farbe Persian Sand
Iowa ist sauber, der Highway ohne Dreck auf der Shoulder, kein Müll am Straßenrand, die Farmen versinken nicht in Gülle, wie er es in England gesehen hat. Um in dem welligen Relief Erosion zu vermeiden, lassen die Farmer hangparallel dauergrüne Streifen stehen.
Schonende Bodenbearbeitung
Was den Chronisten irritiert, sind die riesigen Rasenflächen um die Anwesen. Sie sind groß wie Golfplätze und die Rasenpflege ist auch so. Für den Chronisten unvorstellbar solche Flächen in der Mähpflicht zu haben. Aber das scheint hier auch der Entspannung zu dienen: Auf einem Aufsitzrasenmäher der Kategorie Kommunalfahrzeug mit Ohrschützern über das Grünland zu flitzen. Andernorts in der Welt werden die intelligentesten Kunstgriffe angewendet, um Energie zu sparen. Hier könnte man vielleicht einfach mal darüber nachdenken, eine Feinrasenfläche der Größe Niedersachsens nicht alle zehn Tage zu mähen.
Es muss der Chronist zugeben, dass es schön aussieht, kultiviert, wie auch die Häuser ziemlich gepflegt sind und der Fahrzeugpark in den offenen Carports mindestens dreiteilig ist.
Fast alle Häuser haben diesen Stil; als Dorfgaststätte eine Ausnahmeerscheinung Smokey Row Coffee Shop in Pleasantville
Der Chronist hat wieder Glück für seine Mittagspause. Ein Dorf im Nirgendwo. Der einzige Laden, der geöffnet hat, hat Charme, das Essen ist lecker und die Kinder, die ihn betreiben, machen einen guten Job. Der Versuch bei dem mißmutigen, schweigsamen Rotfuchs seine Frage loszuwerden scheitert kläglich. Keine Reaktion. Am Ende bedankt er sich knapp, dass der Chronist bei Google Maps seine Öffnungszeiten korrigiert hat. Danach war der Laden nämlich Sonntags geschlossen.
Weil er nicht gerne billig daher kommen möchte, hatte der Chronist diese Tour von der direkteren Variante mit 90 km auf eben die seiner Meinung nach angemessene Mindestlänge von über 100 km aufgepumpt. Dieser Umweg ist auch schön, hat aber den Nachteil, als Nebenstrecke wie eine graue Schärpe einfach auf das Relief aufgelegt worden zu sein, während man für einen Highway schon mal einen Berg abträgt.
Raufrunter, raufrunter; Memorialdaybeflaggung auf dem Friedhof
Des Moins, eine picobello hergerichtete Landeshauptstadt, großzügige, neue Fußgängerwege, Blumengeschmückt; die Restaurants und Brauereikneipen sind gut besetzt. Irgendwie scheinen sich die Städte hier im mittleren Westen neu zu erfinden.
Zweiteilige neue Fußgänger- und Radwegbrücke
https://www.relive.cc/view/vevY3Y7kWJ6
An dieser Stelle möchte der Chronist darauf hinweisen, dass er mindestens zwei Vorgänger auf dieser Route hatte, die sie in ziemlich unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zeiten verfolgt haben. Es wird unzählige geben, aber er weiß nur von diesen.
Hamilton Mack Laing, Riding the continent, ein kanadischer Naturfreund und Biologe, der 1915 mit einer Harley Davidson hier lang kam, zu einer Zeit, als die Straßen noch aus Sand oder Schlamm bestanden und er sich mühsam dadurch wühlen musste. Seine Tagesetappen waren oft nicht länger als die des Chronisten. Bei gänzlich unzulänglichen Straßen benutzte er auch die Schwellen-Schotterpiste zwischen den Eisenbahnschienen unter Beachtung des jeweiligen Fahrplanes. Er scheute den Trubel, schlief in der Natur neben seinem Motorrad unter einer Zeltbahn, die er daran befestigte und freute sich am Morgen über den Gesang der Vögel. Er kannte sie alle.
Der andere, weit bekanntere ist Jack Kerouac mit seinem Buch On the road. Eine wortgewaltige Beschreibung eines wilden Aufbruches 1947 nach Westen als Tramp. Der Chronist glaubt sich zu erinnern, dass in den Siebzigern dieses Buch gerne neben dem Jointbesteck und der Maobibel aber auch auf weißen Schleiflacknachttischen herumlag. Der Chronist las zu der Zeit Johannes Mario Simmel, begeisterte sich als schwer schulgeschädigter für den Versuch pädagogischer Neuausrichtung in Englands Summerhill und konnte sich köstlich mit Asterix und Obelix amüsieren.
Morgen trifft er sich mit Jack in North Platte. Des Chronisten Partner und Freund hat ihm neben Simon Geschke auch als digitales Lesebuch Jack Kerouac mitgegeben. Und er ist gerade an der Stelle, wo der Autor für ein paar Tage in North Platte strandete.
Bis dahin macht es gut.