Liebe Leser, beste Grüße. Alles Gute für das, was der Alltag von euch gerade verlangt oder ihr von ihm. Der Chronist sitzt wieder im Greyhound und genießt sanft geschaukelt die Sonne, die frischgrüne Frühsommerlandschaft, die Wärme und die unverklebte Aussicht aus dem Fenster.
Freie Sicht in Ohio
Sein Rennrad liegt im Keller, schön verankert mit einem neuen Gummispanner von der Shoulder des Highway Nr. 119. Der alte war einmal um die Welt und einfach ausgeleiert. Quincy, der Fahrer, hat weder ein Gepäckticket noch eine Box interessiert. Er ist schwarz, liebenswert und der Zustand seiner Frontzähne passt zu dem des Unternehmens. Seine Begrüßung und der Vortrag der Regeln für die Fahrgäste ist eher ein Gesang. Natürlich darf im Fahrzeug nicht geraucht werden. Er legt aber auch Wert darauf, dass nicht einmal Joints hier drinnen gedreht werden, weil er den Gestank nicht haben will.
Es muss der Chronist in Toledo umsteigen, um gegen Abend in South Bend anzukommen. Sein Startort für die nächste Großstadteroberung: Chicago, für die er am Folgetag fast 150 km kurbeln muss.
Er berichtet heute wieder live. Pittsburgh hat ihn sehr wohlwollend beherbergt. Er verlässt das schöne Zimmer mit Wehmut. Zum Frühstück gibt es diesmal sogar echtes Besteck und noch eine Blitzumfrage mit Daniel.
Daniel aus Northcarolina, auf dem Weg zu einer Fortbildung seiner Firma, 5-0-95.
Schade, dass er es so eilig hat. An dieser Stelle verabschiedet sich der Chronist von den Bildern und versucht stattdessen das Gegenüber so gut wie möglich zu porträtieren und will außerdem versuchen mehr herauszubekommen als nur die drei Zahlen. Sonst wird es für euch und ihn auch langweilig. Wenn ihr noch andere Wünsche habt, her damit.
Pittsburgh hat noch eine richtige Greyhoundstation mit richtigen Gates, aus denen man an das jeweilige Fahrzeug gelangt. Es war auch nur Philadelphia so grauslich. Alle anderen Haltestellen hatten ihren Namen verdient, von kleinen Häuschen in kleinen Städten bis zu Hallen aus besseren Tagen.
Greyhoundstation Cleveland + Quincy als Fahrer; hier muss was passieren: die Toiletten eine Zumutung, die Normaluhren an den Wänden zeigen jede eine andere Zeit, die Farbe fällt in großen Plocken von der Decke des Terminals
Irgendwer in den oberen Etagen des Unternehmens hat keine Lust, keine Idee und vielleicht auch kein Geld. Das Personal vor Ort gibt jedenfalls sein Bestes, ist freundlich und versucht den Laden am Laufen zu halten.
Mit der Haltestelle Cleveland ist der Chronist fast in Kanada. Die Stadt liegt am Eriesee, für den Chronisten für immer mit John Maynard verknüpft. Immerhin konnte er diesem Gedicht in der Schule irgendwie noch folgen, was ihm bis zur völligen Verzweiflung nicht gelang bei „Frühling lässt sein blaues Band…“. Quincy fährt in Toledo ohne ihn weiter, nicht ohne beste Wünsche. Weil noch eine Stunde übrig ist bis zum Anschlussbus und weil er ja sein Rennrad dabei hat, lässt sich der Chronist von Google Maps in die City führen. Und wird überrascht von einer sauberen, vor Modernität und Respekt vor der Tradition strotzenden Stadt.
Einmal Toledo
Toledo war wohl traditionell ein Standort der Glasherstellung. Was jetzt passiert weiß der Chronist nicht aber man verdient sichtbar viel Geld und investiert es in gute Straßen, helle, glatte Fuß- und Radwege, Parks, Museen und in ein eigenes Sinfonieorchester. Was er vermisst: die Stadt ist irgendwie menschenleer. Wo sind all die 300000 Einwohner?
Der Busbahnhof ist Bestandteil des Amtrakbahnhofs, dessen Schalter nur nachts geöffnet ist, und der nur noch ein Gleis in Betrieb hat?! Mit ihm warten ein schwarzes Pärchen, eine schwarze Frau und eine Weiße, die ihren Sohn hergebracht hat. Was ihnen gemein ist, und das schockt den Chronisten in den letzten Tagen immer wieder, ist der komplette Verlust vieler Menschen über die eigene Figur. Sie sind nur noch von der Haut mit aller Mühe zusammengehaltene Behälter, die gefüllt sind mit Umbau- und Abbauprodukten überschüssigen Essens. Er ahnt ja warum, weil er den Gebrauch der Nahrung überall beobachten kann. Die UNO hat ein Welternährungsprogramm, weil Unterernährung lebensbedrohlich ist. Vielleicht wird es mal nötig sein, für die USA ein eigenes Ernährungsprogramm zu stricken. Der Chronist kann sich vorstellen, dass die hier gebräuchliche Art der Ernährung nicht weniger lebensbedrohlich ist ;-)
Die zweite Überraschung ist die ebenfalls schwer übergewichtige, schwarze Fahrerin des Anschlussbusses, die ihm verbal die Ohren langzieht, weil er das Rad nicht angemeldet hat. Und überhaupt würden sie Räder nicht transportieren. Der Chronist muss zwanzig Dollar nachlösen, eigentlich zweiundzwanzig, aber dafür bekommt er keine Quittung.
Sie bringt ihn lustlos aber sicher in den nächsten Staat, Indiana.
Neben dem Chronisten sitzt Rory. Es dauert eine Zeit bis er in Schwung kommt. Ist dann aber froh darüber. Rory ist auf dem Weg nach Chicago. Dort wird er Juror sein für einen Highschool Wettbewerb in Spontanschauspiel, Kurzreden schreiben und auch vortragen und ähnliche Aufgaben. Er entscheidet sich für 12,5-12,5-75. Warum? Ja, er habe von Politik keine Ahnung, sei sich aber als irischer Katholik bei Jesus sicher. Ja, er wird im September wählen gehen.
Rory, einundzwanzig
Außer den Stopovers mit dem Bus, hat der Chronist Ohio übersprungen. Spielt aber auch keine Rolle. Jetzt ist er in Indiana, am Startpunkt South Bend und wieder Hans im Glück im Luxus. Ein Luxus, den ihm die Rezeptionistin mit ein paar Deutschbrocken und einem unschlagbaren Rabatt fürsorglich vermittelt hat. Er kann es noch gar nicht fassen und fürchtet fast den unvermeidlichen Absturz. Es kann doch nicht mit rechten Dingen so weitergehen. Fünfter Stock, modern, Blick vom Bett auf die Stadt, wieder eine sehr saubere, moderne Stadt und eine Stadt ohne Publikum.
South Bend, auch menschenleer; vielleicht sind alle in Indianapolis beim 108. Indy 500 und auch der Flaggenfahrer macht sich gerade auf den Weg
Nicht nur, dass die Rezeptionistin ihm ein schönes Zimmer vermittelt, sie schickt ihn auch noch in eine Bar, die er nie gefunden oder von der Außenansicht her aufgesucht hätte. Er wird da bestens mit Eintopfsuppe, Salat und IPA versorgt. Letzteres eine seltsam schmeckende Biersorte. Eine Mischung aus fruchtig und ziemlich bitter.
Nicki, die Bedienung, gibt ihm 40-40-20 mit auf den Weg und sieht ihren Herzenswunsch, Respekt gegenüber allen LGBT-Menschen, am besten in den Händen von Mr. Biden aufgehoben.
Nicki aus der Oysterbar
Bis Morgen, vielleicht bis übermorgen, denn morgen hat der Chronist das Glück, wieder in bekannten Händen zu sein. Er übernachtet in Chicago bei der Schwägerin eines alten Freundes. Und die hat ein Programm angekündigt, das eine Berichterstattung im Anschluss vielleicht verhindert.
PS Diese letzten Zeilen verfasst er im Bett. Seine zweiteilige Reiseremington auf der Bettdecke. Das iPhone steht auf der Holy Bible. Im weichen Stoff würde es sonst umfallen. Er hätte auch gerne zur Abwechslung "The Book of Mormon" benutzt, aber mit dessen flexiblen Buchrücken funktioniert das nicht. Es macht wohl auf den Inhalt keinen Unterschied.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen